Menschliche Neugier in Computerspielen

Forschungsbericht (importiert) 2021 - Cyberneum

Autoren
Schulz, Eric
Abteilungen
Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, Tübingen
Zusammenfassung
Computerspiele werden eigentlich zu Unterhaltungszwecken entwickelt. Wir nutzen sie zur Erforschung menschlichen Verhaltens. Damit eröffnen wir einerseits neue Ansätze in der psychologischen Forschung, andererseits tragen unsere Ergebnisse zur Verbesserung künstlich intelligenter Systeme bei.

Neugier ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft -  besonders bei Kindern ist sie stark ausgeprägt. Im Kinderbuch „Alice im Wunderland“ folgt Alice neugierig dem weißen Kaninchen und gelangt in eine vielfältige, traumartige Welt, in der sie sich mit ihrem kindlichen Forscherdrang behauptet und immer wieder neue Lösungen findet.

Die experimentelle Psychologie erforscht die Triebfedern menschlichen Verhaltens, wie beispielsweise die Neugier, traditionell mit recht einfachen Szenarien. Um mehr über die Prinzipien intelligenten Handelns zu erfahren, werden Probanden beispielsweise aufgefordert, wiederholt Entscheidungen zwischen zwei Möglichkeiten zu treffen, oder sie sollen die Länge zweier Linien miteinander vergleichen.

Solche reduzierten Versuchsanordnungen stehen in starkem Gegensatz zur Komplexität der realen Welt. Daher sind, wenn es um den Umgang mit Komplexität geht, die Theorien des maschinellen Lernens den Theorien menschlichen Lernens mittlerweile weit überlegen. Dazu kommt, dass die Fähigkeiten künstlich intelligenter (KI-) Systeme insbesondere in den vergangenen zehn Jahren einen nahezu kometenhaften Aufstieg erfahren haben. Dass sich die Computer-Fähigkeiten in solch kurzer Zeit stark verbesserten, lag insbesondere daran, dass man den Schwerpunkt verlagert hat: man optimierte die Computer zunehmend auf vielfältige Umgebungen hin und ließ sie komplexere Verhaltensweisen erlernen. Das Ergebnis ist zum Teil beeindruckend: Computer mit künstlicher Intelligenz besiegen sogar die menschlichen Weltmeister im jahrhundertealten, komplizierten Brettspiel „Go“, oder sie lösen schwierige mathematische Probleme.

Unsere Forschungsgruppe möchte einen ähnlichen Wechsel in den Theorien menschlichen Lernens vollziehen: Wir studieren menschliches Verhalten im Rahmen realitätsnaher Umgebungen. Dazu nutzen wir die komplexen Welten von Computer- und Videospielen. Obwohl Videospiele zu Unterhaltungszwecken entwickelt wurden, werden sie zunehmend zu Forschungszwecken genutzt. Die Spiele bieten uns eine ideale Plattform, um menschliches Verhalten mit unterschiedlichen Szenarien und Aufgaben zu studieren. Dabei konzentrieren wir uns insbesondere auf jene Verhaltensweisen, in denen Menschen immer noch besser abschneiden als die derzeit besten Computer-Algorithmen, wie beispielsweise kreative Prozesse. Hier ist die menschliche der künstlichen Intelligenz immer noch eine Nasenlänge voraus.

Eines der Spiele, die wir einsetzen, ist das kostenfreie Online-Spiel Little Alchemy (https://littlealchemy.com/). Hier starten die Spieler mit vier einfachen Elementen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Man kann auf einer virtuellen Leinwand jeweils zwei Elemente miteinander kombinieren, um ein neues zu erschaffen (so ergibt z. B. die Kombination aus „Wasser“ und „Feuer“ das neue Element „Dampf“). Insgesamt können 720 Elemente entstehen, von einfachen wie „Lehm“ oder „Gras“ bis zu komplexen wie „Mensch“ oder „Astronauteneiscreme“. Bemerkenswert ist, dass es für die Erschaffung von Elementen keinerlei Belohnung gibt, dennoch spielen täglich Tausende von Menschen dieses Spiel online. Was treibt ihr Verhalten an, und wie kann man dieses wissenschaftlich am besten beschreiben?
Im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem Erfinder des Spiels Little Alchemy  haben wir uns das Verhalten von ca. 30.000 Spielern genauer angeschaut und mathematisch modelliert. Dabei haben wir entdeckt, dass Spieler versuchen, Elemente zu kreieren, aus denen sich wiederum möglichst viele andere Elemente entwickeln lassen. Diese Form von Neugier bezeichnet man als Empowerment (Befähigung). Aus unseren Ergebnissen schließen wir, dass die Menschen so handeln, weil sie Spaß daran haben, immer mehr neue Elemente kreieren zu können. Gleichzeitig lernen sie immer mehr über das Spiel. Als Nächstes möchten wir versuchen, die Merkmale, welche die menschliche Neugier kennzeichnen, in einer künstlichen Intelligenz einzuprogrammieren.

Ein anderes, komplexeres Online-Spiel nutzen wir, um zu erforschen, wie große Gruppen von Menschen gemeinsam entdecken und kreativ interagieren. Im Spiel One Hour One Life (http://onehouronelife.com/ ) bilden Spieler Gruppen, um neue Technologien zu entwickeln. Dabei werden die Spieler jeweils zufällig in eine Familie und ein Szenario hineingeboren, und mit jeder Minute wird man um ein Jahr älter. Gemeinsam erforschen die Familienmitglieder ihre Umgebung und können – wie in Little Alchemy – existierende Elemente kombinieren, um neue Elemente zu bilden. Hierbei entstehen, ausgehend von Steinen und Stöcken, sogar komplexe Technologien wie Autos oder Flugzeuge. Dabei tragen die Teilnehmenden jeweils nur einen kleinen Teil zur Entwickung der gesamten Familie über mehrere Generationen bei. Die älteste Familienlinie umfasste zum Zeitpunkt dieser Arbeit über 800 Generationen.
Um zu verstehen, was erfolgreiche, hoch-innovative Gruppen von weniger erfolgreichen unterscheidet, haben wir das Verhalten von ca. 30.000 Spielern in 6300 Familien analysiert. Unsere Ergebnisse zeigten, dass die besonders erfolgreichen Gruppen vor allem zwei Merkmale aufweisen: Erstens können sich Individuen effizient und zielgerichtet einfinden, das heißt, schnell Positionen einnehmen, die gerade gebraucht werden. Zweitens stehen in diesen Gruppen alle Mitglieder häufig in Austausch miteinander. Mathematisch lässt sich der Prozess kollektiver Neugier als einen gerichteten Suchprozess entlang des Graphen beschreiben, der die Elemente im Spiel umfasst. Derzeit versuchen wir künstliche Agenten zu entwickeln, die dieses Spiel genauso gut spielen wie die Menschen, oder zumindest mit ihnen zusammenarbeiten können.  

Wir glauben, dass die Komplexität von Spielen es uns ermöglichen wird, realistischere Modelle menschlichen Verhaltens zu bilden. Wenn wir herausfinden, welche Annahmen die Spieler mitbringen – zum Beispiel, dass bestimmte Objekte beweglich sein müssen - könnte man diese Annahmen auch in Algorithmen des maschinellen Lernen einprogrammieren und damit deren Effizienz erhöhen.
Wir hoffen insgesamt, dass unsere Arbeit zu einem Paragidmenwechsel in der Psychologie führt. Methoden der Forschungsfelder „Data Science and Machine Learning“ könnten in Zukunft mit den Theorien der Kognitions- und Lernpsychologie positiv zusammenwirken. Zum Beispiel lassen sich mit Computerspielen vermutlich auch die Grenzen menschlichen Lernens untersuchen, weil sich das Spiel bei vielen Teilnehmenden über mehrere Wochen erstreckt. Um beide Forschungsfelder erfolgreich zu verbinden, müssen wir, wie Alice im Wunderland - oder wie unsere spielenden Probanden-, weiterhin zielgerichtet und kollaborativ neugierig bleiben.

Zur Redakteursansicht