Handlungen erkennen ohne Spiegelneurone

Die Zellen sind in sozialen Interaktionen offenbar nicht so wichtig wie gedacht

27. April 2016

Wenn uns jemand gegenübersteht und zielstrebig mit dem Arm zu einer Bewegung ausholt, fragt sich unser Gehirn, ob er uns angreifen oder vielleicht nur begrüßen möchte. Was bei der Handlungserkennung im Kopf tatsächlich passiert und welchen Beitrag Spiegelneurone dabei leisten, haben Wissenschaftler der Abteilung „Wahrnehmung, Kognition und Handlung“ am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen genauer untersucht. Das Team um Stephan de la Rosa versetzte seine Versuchsteilnehmer dazu in eine virtuelle Realität.

Es wird vermutet, dass wir uns mit Hilfe der Spiegelneurone in andere hineinversetzen können. Wenn wir sehen, wie sich jemand verletzt, leiden wir demnach innerlich mit: Die speziellen Nervenzellen sorgen dafür, dass Gesehenes im Gehirn so simuliert wird, als ob wir es am eigenen Körper erfahren.

In der Wahrnehmungsforschung geht man davon aus, dass Menschen eine gesehene Bewegung im eigenen motorischen System dank der Spiegelneuronen selbst durchspielen. Dieses innerliche Nachempfinden lässt uns vermutlich erschließen, was die beobachtete Handlung bedeutet. Die Spiegelneurone sind dabei die Schaltstelle zwischen motorischem und visuellem Areal. Wenn aber das motorische System für die Einordnung einer Handlung ausschlaggebend sein soll, heißt dies im Umkehrschluss auch, dass die Wahrnehmung durch das Ausführen einer eigenen Handlung manipuliert werden kann.

Angriff oder Begrüßung?

Die Forscher analysierten in ihrer Studie, durch welchen Mechanismus das Gehirn eine Handlung erkennt. Dazu zeigten sie den Probanden zwei verschiedene Bewegungen: einen Faustschlag und eine Begrüßungsgeste, den sogenannten „Fist bump“, der vor allem unter männlichen Jugendlichen verbreitet ist. Dabei arrangierten sie das Szenario so realistisch wie möglich. Ein lebensgroßer Avatar stand der Versuchsperson auf einer Leinwand gegenüber. Dank einer speziellen Datenbrille sah der Proband das virtuelle Gegenüber dreidimensional – die Bewegungen des Avatars wirkten, als ob sie sich in greifbarer Nähe abspielten.

Eigentlich ging es für die Versuchspersonen lediglich darum, zu entscheiden, ob ihnen gerade ein aggressiver Faustschlag oder eine nett gemeinte Begrüßung präsentiert wurde. Allerdings erschwerten die Wissenschaftler die Bedingungen etwas, indem sie die beiden Gesten zu einer einzigen Bewegung verschmolzen. So wurde es Interpretationssache, welche Absichten der Avatar hatte.

Die Frage war nun: Lassen sich Menschen bei der Deutung von Handlungsabläufen anderer tatsächlich durch ihr eigenes motorisches System beeinflussen? Die Probanden wurden dazu im Experiment auf verschiedene Weise manipuliert: Sie beobachteten auf der Leinwand eine klar zu erkennende Handlung in einer Endlosschleife. Gleichzeitig wurden sie selbst aktiv und führten zum Beispiel Schläge in der Luft aus. Anschließend sollten sie beurteilen, wie die undefinierbare Bewegung des Avatars zu deuten sei.

Ich glaube nur, was ich auch sehe

Wurden die beiden Sinnesreize gegeneinander ausgespielt - sah also der Proband beispielsweise einen Fist Bump vor sich, während er selbst einen Faustschlag ausführte - dann ging der visuelle Eindruck als klarer Sieger hervor. Die eigene Bewegung nahm dagegen keinen Einfluss auf die Wahrnehmung. Der Einfluss des Motorsystems schlug sich, anders als bisher vermutet, kaum auf die Einschätzung der Versuchsteilnehmer nieder. Zur Überraschung der Wissenschaftler spielten die mit dem motorischen System verknüpften Spiegelneuronen Handlungserkennung offenbar keine größere Rolle.

Mit dem Versuchsaufbau konnte das Team zum ersten Mal den Beitrag des Motorsystems zur Handlungserkennung während sozialen Interaktionen unter lebensnahen Experimentalbedingungen untersuchen und damit auch die bisherige Theorie über das Zusammenspiel von Spiegelneuronen und Reizverarbeitung. „Anders als bisher angenommen ist der Einfluss der Spiegelneurone auf die Deutung einer Handlung nicht besonders groß. Die visuelle Wahrnehmung ist nämlich sehr viel wichtiger für unser Gehirn - wir verlassen uns auch in sozialen Situationen fast ausschließlich auf das, was wir sehen“, fasst Studienleiter Stephan de la Rosa die Ergebnisse zusammen.

CB/HR

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