Wieso nutzen Wahrnehmungsforscher Virtuelle Realität (VR)?

Scheinbar mühelos nehmen wir Menschen die Welt wahr, bewegen uns in und interagieren mit ihr. Um herauszufinden, wie uns das tatsächlich gelingt, entwerfen Wahrnehmungsforscher ziemlich raffinierte Experimente.

Wenn die Wissenschaftler beispielsweise mehr über unseren Orientierungssinn erfahren möchten, entwickeln sie ein Experiment, in dem Versuchspersonen sich in einer für sie ungewohnten Umgebung zurechtfinden müssen. Dabei stehen die Wissenschaftler oft vor einem Dilemma: Für die Erforschung des Orientierungssinns unter realistischen Bedingungen wäre die natürliche Umgebung optimal, doch in einer natürlichen Umgebung können nicht alle auftretenden Umweltfaktoren kontrolliert werden, wie zum Beispiel das Wetter oder der Straßenverlauf. Damit der Spagat zwischen Realismus auf der einen und experimenteller Kontrolle auf der anderen Seite doch gelingt, greifen Wahrnehmungsforscher seit einigen Jahren auf Virtuelle Realität (VR) zurück, denn diese ermöglicht erstmals die Durchführung von Versuchen unter genau kontrollierbaren Reizbedingungen in einem geschlossenen Kreislauf von Wahrnehmung und Handlung. Bei dieser Art von Experimenten kann jede Handlung, die auf einen Reiz folgt, wiederum Auswirkungen auf den Reiz selbst haben, so wie es auch im tatsächlichen Leben meist der Fall ist. Die Forschung in VR bietet die Möglichkeit, solche Interaktionszyklen präzise dokumentieren und gezielt verändern zu können. Dies lässt Rückschlüsse zu, welchen Einfluss Reizveränderungen sowohl auf die Wahrnehmung als auch auf das daraus resultierende Verhalten haben.

Ein ganzes Gebäude für VR

Um dieses Potenzial der VR-Technologie bestmöglich auszuschöpfen, wurde das MPI für biologische Kybernetik um ein zusätzliches Gebäude erweitert, das Cyberneum. Es ist ausgestattet mit einer Vielzahl modernster Technik: Bewegungssimulatoren, Tracking-Systeme und riesige Laufbänder gehören unter anderem dazu. Letztere machen es möglich, dass virtuell projizierte Welten ganz real und vor allem uneingeschränkt begehbar werden. Visualisiert werden diese Welten durch die Projektion auf Leinwand oder mittels spezieller Brillen, sogenannter Head-Mounted-Displays (HMD). Der Eindruck, sich in einer anderen Welt zu befinden, wird durch das weitgehende Ausblenden der sichtbaren Umwelt durch die Displays noch verstärkt. Die Aufgabe der vielen Kameras der Tracking-Systeme ist es, die Position der sich bewegenden Testpersonen zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen und diese in Beziehung zur virtuell gesehenen Welt zu setzen. Die eingangs erwähnten Fragen zur Raumwahrnehmung und der Raumorientierung werden hier zum Beispiel untersucht. Bewegungssimulatoren unterschiedlicher Art erlauben hingegen zusammen mit dem Display, die gefühlte von der gesehenen Eigenbewegung zu entkoppeln. So können der Gleichgewichtssinn und der visuelle Sinn unabhängig voneinander untersucht werden und Hinweise liefern, wie die eingehenden Informationen in unserem Gehirn dargestellt werden. Zudem bieten diese Bewegungssimulatoren die Möglichkeit, Fahr- und Flugmanöver gefahrlos zu testen und zu trainieren.

VR – Wirklichkeit von morgen

Hier werden also auch Experimente durchgeführt, die in der Realität viel zu gefährlich oder schlicht überhaupt nicht möglich wären. Limitierungen geben nur Hard- und Software vor, aber mit jeder neuen Generation an Endprodukten kommen virtuelle Welten ihrem Vorbild etwas näher. Bessere Auflösung, schnellere und akkuratere Synchronisierung der Visualisierung auf dem Bildschirm mit der Kopfbewegung des Nutzers machen das Erlebnis schon heute bereits beinahe perfekt. Spätestens seitdem Facebook das Startup-Unternehmen Oculus kaufte, das mit einer erschwinglichen VR-Brille Schlagzeilen machte, ist das Thema VR auch im Mainstream angekommen. Virtuelle Realität ist auf dem Weg in die Haushalte, da die Hardware, die bis vor ein paar Jahren noch Tausende Euro kostete, jetzt zu Preisen von einigen Hundert Euro bestellt werden kann. Die Forschung an den beiden Max-Planck-Instituten für biologische Kybernetik und für Intelligente Systeme Tübingen wird nicht nur als Anwender von VR, sondern auch für deren Weiterentwicklung in den folgenden Jahren wichtige Impulse für die Virtual Reality liefern.

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